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[ Lesungen - Begegnungen]
Begegnungen
Eine Lesereise durch Belarus
Kurz vor meiner Lesung in der Schlossbibliothek in Grodno steht er plötzlich vor mir: Ein Kriegsveteran wie aus einem sowjetischen Lesebuch, Schlips und Kragen, guter Anzug, Orden am Jackett. Er wird geführt von einer freundlich lächelnden Frau, die in russischer oder belarussischer Sprache auf mich einredet, von der ich kein Wort verstehe.
"Ein Kollege", übersetzt Sergej, der Dolmetscher. "Ein Kinderbuchautor. 1951 geboren. Mit neun Jahren ist er auf eine Mine aus dem Zweiten Weltkrieg getreten und hat das Augenlicht verloren."
Der Mann drückt mir die Hand und überreicht mir sein Buch. Mit den Augen eines Kindes, heißt es. Gedichte, kurze Geschichten um einen Jungen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Dazu ganzseitige Bilder von Schülern einer Kunstschule in Grodno. Das letzte Bild: Eine Explosion, der Junge hält sich schützend die Hände vors Gesicht.
Der blinde Kollege und seine Tochter verschwinden zwischen den hereinströmenden Schülern. Ich sehe ihn nicht wieder.
Vielleicht ist er enttäuscht von unserer Begegnung. Er hat gehört, dass ein deutscher Autor nach Grodno kommt, der wie er über den Krieg geschrieben hat, den Ersten Weltkrieg zwar, aber über den Krieg. Vielleicht ist ihm meine Sichtweise fremd, vielleicht entspreche ich nicht seiner Vorstellung von einem Schriftsteller.
Denn das habe ich inzwischen in meinen Lesungen in Minsk und Baranowitschi und während unserer Fahrt durch Belarus gelernt: Meine, durch die Brüche der deutschen Geschichte geprägte Sichtweise auf die Kriege des vorigen Jahrhunderts unterscheidet sich von der offiziellen Erinnerungskultur in diesem Land. Hier ist der Zweite Weltkrieg der "Große vaterländische Krieg", in Minsk gibt es die "Straße der Sieger", einen Siegesobelisken, einen Panzer als Denkmal vor dem "Zentralhaus der Offiziere". In der Stadt Smarhon, durch die im Ersten Weltkrieg die Frontlinie verlief, besichtigen wir das 2014 eingeweihte Mahnmal. Auch hier viele "große Worte", Erinnerungen an die "heldenhaften" militärischen Taten. Am Ende der monumentalen Anlage aber steht ein Naturstein, darauf ein Satz auf Belarussisch und auf Deutsch, dem auch ich zustimmen kann: JEDER KRIEG BRINGT LEID, ZERSTÖRUNG UND TOD MIT SICH. UNSERE HEILIGE PFLICHT IST ES, UNS DARAN ZU ERINNERN. Wie bitter muss es für die Menschen sein, die die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als die "Sieger" erlebt haben und doch erfahren mussten, dass es den Besiegten, den Nachfahren der verhassten "Faschisten", die den Krieg verschuldet haben, materiell schon bald um so vieles besser ging.
In den Lesungen aus meinem Buch "Zeit der großen Worte" - eine Familiengeschichte aus dem Ersten Weltkrieg – habe ich aber auch erfahren: Die jungen Leute in Belarus, Schülerinnen und Schüler, mit denen ich gesprochen habe, sind in ihrer großen Mehrheit offen, neugierig und bereit, sich eigene, durchaus unpathetische Gedanken zu machen. Der Blick auf die Vergangenheit ist das eine, wichtiger ist ihnen die Gegenwart, die Zukunft. "Wenn Sie wählen könnten, in welcher Zeit würden Sie am liebsten leben?", fragt mich ein Mädchen. Wir können uns schnell einigen: "Am liebsten in einer Zukunft ohne Krieg, in einem gerechten Frieden mit Wohlstand für alle." Wenn es so einfach wäre. Aber es tut gut, aus so unterschiedlichen Welten kommend, sich des Einfachen, des Wichtigsten, zu vergewissern. Etwas wird dabei spürbar, das tragen kann, über alle Unterschiede hinweg.
Auf Schritt und Tritt aber hat uns die Vergangenheit im Griff. Die Bevölkerung von Hrodna (Grodno), der schönen alten Stadt nahe der Grenze zu Polen, erfahren wir, war vor dem Zweiten Weltkrieg zu 85% jüdisch. Nur etwa hundert Juden haben überlebt. Es gab Massenerschießungen, Transporte nach Ausschwitz und Treblinka. Trotz der mehr als siebzig Jahre, die seither vergangen sind – es bleibt ein beklemmendes Gefühl, als Deutscher am Ort der Verbrechen zu stehen, die hier im deutschen Namen begangen worden sind.
Die eigens für uns engagierte Stadtführerin zeigt uns erst auf Nachfrage den Eingang des ehemaligen Ghettos, führt uns in die Hauptsynagoge, in der heute ein kleines Museum ist, und die als Ausstellungs- und Veranstaltungsraum genutzt wird. Nur noch an hohen Feiertagen finden hier religiöse Zeremonien statt. Mehr als vierzig Synagogen gab es vor dem Krieg, erfahren wir, jetzt sind es wieder vier.
Mein Vater war als Soldat der deutschen Wehrmacht 1941 in Russland. In seinen Lebenserinnerungen habe ich nachgelesen, dass er durch Litauen marschiert ist – also weiter nördlich - vor Kalinin (heute Twer) sind ihm die Füße erfroren, und er kam ins Lazarett nach Deutschland zurück. Von Gräueltaten habe er nie etwas gesehen und gehört.
Als junger Mensch habe ich, wie viele meiner Generation, bohrende Fragen gestellt, war lange von fürchterlichen Zweifeln erfüllt und unzufrieden mit der Antwort meines Vaters und seiner Zeitgenossen: Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt wie alle Soldaten überall auf der Welt. Es ist eine offene Frage, gestern wie heute: Wann ist es richtig, wann ist es falsch, seine Pflicht zu erfüllen? Wo beginnt die persönliche Verantwortung?
Dass meine Frau und ich nun, 2015, auf Einladung des Goethe-Instituts durch Belarus gefahren, dass wir in den Bibliotheken und Schulen so offen und herzlich empfangen werden, empfinden wir als großes Geschenk. Vom ersten Augenblick an fühlen wir uns von unseren Gastgebern nicht nur höflich betreut und über die Klippen des Nichtverstehens von Sprache und Schrift gebracht, sondern wir fühlen uns wie unter Freunden, weltoffenen, interessierten und interessanten Freunden. Alexander, der Leiter der Bibliothek des Goethe-Instituts Minsk und Organisator unserer Reise, mit dem ich vorher Mails getauscht und einmal telefoniert habe, ist viel jünger als erwartet, 35, etwas mehr als halb so alt wie ich. Noch jünger ist Olga, seine charmante Mitarbeiterin, die uns gleich am ersten Tag durch die Innenstadt von Minsk führt. Beide sind Weißrussen, die für Goethes arbeiten. Sie haben Germanistik und Bibliothekswesen studiert, sprechen akzentfrei Deutsch und sind für alles und jedes ansprechbar. Dann sind da die beiden Sergejs – Sergej, der Fahrer, der uns vom Flughafen abgeholt hat, ein großer, in sich ruhender Mann, ein leidenschaftlicher Autofahrer, der uns hunderte von Kilometern durch das weite Land fährt, durch regenverhangene Birkenwälder, durch Moorgebiete, und uns sicher von einem Veranstaltungsort zum anderen bringt.
Der andere Sergej steigt am zweiten Tag auf der Fahrt nach Baranowitschi zu. Ein schmaler junger Mann, man könnte ihn für einen Schüler oder Studenten halten. Sergej ist freier Dolmetscher, 35 wie Alexander, mit seiner Hilfe werden die Lesungen und Gespräche zu wirklichen Begegnungen. Sein phänomenales Gedächtnis und seine Präsenz lassen uns die Sprachbarriere fast vergessen. Vom Buch weg übersetzt er die Passagen, die ich auf Deutsch gelesen habe, ins Belarussische, und die Zuhörer haben die Möglichkeit, ihre Fragen in dieser oder jener Sprache zu stellen.
Nach jeder Veranstaltung ist in der Bibliothek der Tisch gedeckt mit selbstgemachtem Apfelkuchen, mit Gebäck, mit Süßigkeiten. Wir werden mit Geschenken überhäuft, werden eingeladen, bald wiederzukommen, sollen in Deutschland über ihr Land erzählen. In Baranowitschi überreichen mir zwei Frauen und ein Mann einer "Poetischen Vereinigung" ihre Bücher mit Widmung. Eine Frau von der Vereinigung für belarussische Sprache bleibt bis zum Schluss, redet auf uns ein, und Sergej erklärt uns das Politikum um die Sprache. Die Mehrheits- und Alltagssprache im Land ist Russisch, in intellektuellen Kreisen und da, wo man das Nationale betonen will (erst seit 1991 ist Belarus ein selbständiger Staat), spricht man Belarussisch. Je nach Weltlage wechselt auch der Präsident die Sprache. Seit der Krim- Okkupation und der wachsenden Befürchtung, dass die Ansprüche des großen Brudervolks im Osten die junge Selbständigkeit gefährden könnten, spricht nun auch der Diktator Lukaschenko öffentlich manchmal Belarussisch.
Am Abend im Regen von Grodno, merke ich, dass ich nasse Füße habe. An beiden Schuhen hat sich das Leder von der Sohle gelöst. Rajko, Goethe - Mitarbeiter, der aus Weimar stammt und eine Zeitlang in Grodno gearbeitet hat, weiß Rat. In einem, zum Glück noch um 20 Uhr geöffneten, Kaufhaus finde ich wunderbar warme Stiefel – in Deutschland hätten sie dreimal so viel gekostet.
In der Bibliothek in Molodetschno sitzt ein Mädchen im Publikum, das auf ganz besonders intensive Weise zuhört und dann die erste Frage stellt. Julia, stellt sich heraus, war im vergangenen Jahr Austauschschülerin in einem Gymnasium in meiner Heimatstadt Göttingen. Sie spricht sehr gut Deutsch, kennt die Stadt, aus der wir kommen. Zwei Flugstunden, zwei Stunden Zeitverschiebung, die geografische und die kulturelle Entfernung – auf einmal ist das wie weggewischt. Wir blicken in viele offene, fröhliche Gesichter, und zu der Vorstellung, in einer Schule irgendwo in Deutschland zu sein, fehlt nicht viel.
Dass manches im Land in Bewegung ist, haben wir auch in der Kinderbibliothek in Minsk erfahren. In der Sowjetzeit hatten Kinder in der Bibliothek still zu sein wie im Lesesaal für Erwachsene, sagt die Bibliothekarin. Mit Stolz zeigt sie uns ihre schöne bunte Einrichtung, eine Karlson-vom-Dach-Landschaft, eine Spende aus Schweden, die zum Spielen einlädt. Kinder wuseln herum, lachen, toben, spielen. Die Kinderbibliothek ist wie bei uns Sozialstation, Treffpunkt auch für nichtlesende Kinder, ein Treffpunkt mit dem geduldigen Angebot im Hintergrund, das Lesen und die Literatur zu entdecken.
Bei der Abendlesung im Goethe-Institut in Minsk lernen wir den Autor und Übersetzer Alhierd Bacharevice kennen, der die ersten drei Kapitel von "Zeit der großen Worte" ins Belarussische übersetzt hat. Alhierd Bacharevice hat längere Zeit in Hamburg gelebt, sein Roman "Die Elster auf dem Galgen" ist auf Deutsch im Leipziger Literaturverlag erschienen und bietet auch deutschen Lesern eine gute Möglichkeit, vom Innenleben in Belarus zu erfahren. Nach der Lesung hören wir von den Studenten und anderen erwachsenen Zuhörern viel Freundliches über Deutschland. Der selbstkritische Umgang mit der eigenen Geschichte, das sei eine positive Nachkriegsleistung, die man sich auch anderswo wünschen würde.
Was wisst ihr in Deutschland über uns hier in Belarus? Das werden wir immer wieder gefragt, von jungen wie von älteren Menschen. Nicht viel, müssen wir antworten, allenfalls Schlagworte wie "Die letzte Diktatur in Europa". Von der kürzlich stattgefundenen Wahl haben wir gehört und gelesen, die man im westlichen Sinn kaum eine Wahl nennen kann. Land und Leute lagen für unsere Wahrnehmung weit weg, im Schatten der Weltpolitik. 1986, als Belarus noch ein Teil der Sowjetunion war, als in der benachbarten Ukraine die Atomkatastrophe von Tschernobyl geschah, haben wir das mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Der Supergau der Moderne – verstrahlte Menschen, kontaminierte Gebiete – Weißrussland war am meisten davon betroffen. Noch heute gibt es dort kaum eine Familie, die nicht an den Folgen dieser Katastrophe zu leiden hätte. Wir in Mitteleuropa sind noch einmal glimpflich davon gekommen. Auch in Belarus spricht man kaum noch darüber, es sei denn im Sinn von: Das haben wir nun hinter uns. Kaum zu glauben, aber man plant den Bau eines eigenen, neuen Atomkraftwerks.
Natürlich haben wir vor unserer Reise Swetlana Alexijewitsch gelesen, die mit ihren Büchern ein differenziertes und tief beeindruckendes Bild vom Leben nach Tschernobyl und vom "Leben auf den Trümmern des Sozialismus" geschaffen hat, wofür sie im November 2015 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. In Belarus ist man stolz auf die hohe Auszeichnung der Landsmännin, hören wir, aber vor der schonungslosen Auseinandersetzung mit der der eigenen Geschichte scheuen viele Menschen noch zurück.
Wir haben vor unserer Reise auch Artur Klinaus empfehlenswertes, mit Ironie und Zuneigung geschriebenes Buch über Minsk, die "Sonnenstadt der Träume" gelesen. Dann haben wir sie selber gesehen, die Stein gewordene Utopie vom Sozialismus, die Zwei-Millionenmetropole, die nach dem Krieg auf den Trümmern der zu 90% zerstörten Stadt als Muster sowjetischen Lebens entstanden ist: Große Plätze, monumentale öffentliche Gebäude, Theater, Palast der Republik, Palast der Gewerkschaften, Sportpalast, ein Zirkus in einem großen, prachtvollen Gebäude, Lukaschenkos Regierungspalast, das Lenindenkmal natürlich, das säulengeschmückte Postgebäude, große Parkanlagen. Im Stadtkern, wo auch unser auf dem Gelände eines alten Klosters gebautes Hotel liegt, finden sich, architektonisch bunt gemischt, viele nach alten Plänen neu gebaute Gebäude, das Rathaus, die orthodoxe Heilig-Geist-Kirche, das große Opernhaus. Auffallend sauber ist hier alles, kein Graffiti an den Hauswänden wie in deutschen Städten. Abseits des Stadtkerns drängen sich Hochhäuser und Autos, auf vier Wohnungen kommt ein Autoabstellplatz. Die Stadt platzt aus den Nähten. Auf dem Land dagegen sehen wir neben schmucken Holzhäusern zerfalle Hütten und einsame Kühe oder Ziegen auf großen Wiesen. Hier auf dem Land leben oft nur noch alte Menschen, die jungen zieht es, der Arbeit wegen, in die Stadt.
Was wissen wir nun mehr nach einer Woche in Belarus? Sicher längst nicht genug, um uns ein allumfassendes Urteil erlauben zu können. Wie nach jeder guten Geschichte erwachsen uns auch nach dieser Reise neue Fragen. Was haben wir nicht gesehen, nicht gehört, nicht verstanden? Was steckt möglicherweise noch alles hinter der schönen, melodischen, immer noch unverstandenen Sprache und den kyrillischen Buchstaben? Eine Woche war dann doch eine viel zu kurze Zeit. Aber manches hat sich in dieser Woche für uns neu gemischt und kommt einer Antwort auf alte und neue Fragen nahe.
Die Begegnungen mit den Menschen, dem Land und der Geschichte haben mir oft wie im Zeitraffer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, manchmal übereinander geschoben. Die Wunden der Vergangenheit, die Konflikte der Gegenwart, die unausrottbare Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Alles gehört zusammen.
Wieder zu Hause habe ich mir die Texte meines blinden Kollegen aus Grodno übersetzen lassen. Viktor Kulatschjov, der Autor, steht da im Vorwort, ist ein tapferer Mensch mit einem schweren Schicksal. Mehr als fünfzig Jahre habe er Musik und Gesang in einer Schule für blinde Kinder in Grodno unterrichtet.
Eine Geschichte meldet sich: Einer verliert mit neun Jahren sein Augenlicht, sieht auch im Alter nur die Bilder seiner Kindheit, findet eine Sprache, die alle verstehen…
Etwas Neues könnte beginnen.
Die wunderbar warmen Stiefel aus Belarus werden mich über den Winter tragen.
Copyright Herbert Günther
Nach der Lesung in Molodetschno
Vor der Uni in Minsk
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