Am 4. Mai 2024 hat Herbert Günther im Kaisersaal von Schloss Corvey die 20. Hoffmann von Fallersleben Rede gehalten und die Hoffmann von Fallersleben-Medaille erhalten.
20. Rede: Herbert
Günther
Am Samstag, 4. Mai 2024
im Kaisersaal von Schloss Corvey
Das Pendel der Gefühle
Hoffmann von
Fallersleben, das Nationale und wir
Sehr verehrte Damen und Herren,
bevor ich die Einladung erhalten habe, an diesem geschichtsträchtigen
Ort die zwanzigste Rede in der Nachfolge so namhafter Persönlichkeiten zu
halten, wusste ich über Hoffmann von Fallersleben nicht viel mehr als wohl die meisten Leute.
Dichter der Nationalhymne ja - doch schon dass wir ihm
so viele Lieder verdanken, die mir aus meiner Kindheit vertraut und nah sind,
wie z.B. „Alle Vögel sind schon da“, „Der Kuckuck und der Esel“ oder „Winter
ade“ und viele andere, wusste ich nicht.
Zwar habe ich mich immer wieder mal mit der Zeit des Vormärz beschäftigt,
besonders mit der Lebensgeschichte von Wilhelm Busch, Hoffmanns Zeitgenossen,
über den ich eine Biographie geschrieben habe. Doch
Leben und Werk Hoffmann von Fallerslebens lag für mich bis dato weitgehend im
Dunkeln. Umso mehr danke ich den Organisatoren, dem Arbeitskreis Hoffmann von
Fallersleben in Höxter, vor allem Dr. Michael Stoltz und Herzog Viktor von
Ratibor für die Gelegenheit, dazuzulernen. Es hat mir Freude gemacht.
Dass Sie sich in diesem Jahr dazu entschlossen haben, einen
Kinder- und Jugendbuchautor für diese Rede einzuladen, kündet von wahrhaft Hoffmannschen Mut. Wird doch der Kinder- und
Jugendliteratur in unseren Tagen gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht
selten gilt es heute als Ausweis fortschrittlichen Denkens, das Lesen von
Büchern als Relikt aus vergangener Zeit einzuordnen. Selbst in manchen Schulen
begegnet man Lehrerinnen oder Lehrern, die ihren Schülern - spätestens ab der
fünften Klasse - die Konzentration für einen längeren Text nicht mehr zutrauen.
Wie schnell der Geist der Zeit sich ändert! In den siebziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts war ich sieben Jahre lang Lektor im Otto Maier
Verlag in Ravensburg. Damals träumten wir davon, dass auch die Kinder- und
Jugendliteratur ernstgenommen würde, das sie aus den
Fesseln des allzu Pädagogischen zu befreien wäre. Die Maßstäbe der allgemeinen
Literatur sollten auch für die Kinder- und Jugendliteratur gelten. In der
Aufbruchszeit nach 1968 fingen namhafte Autoren der Erwachsenenliteratur wie
Peter Härtling an, auch für Kinder und Jugendliche zu schreiben. Wir in
Ravensburg hatten mit Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ einen
großen Aufmerksamkeits- und Verkaufserfolg mit einem Thema, das in der
deutschen Kinderliteratur lange tabu war. Der lapidare Leitspruch, der Maxim
Gorki zugeschrieben wurde, lautete: Für Kinder muss man schreiben wie für
Erwachsene, nur besser. Eine neue Offenheit wurde gewagt, viel Interessantes
begann, vieles auch, was sich dann in ideologischer Enge verlaufen hat.
Hoffmann von Fallersleben , nehme
ich an, hätte den Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ nicht in den Mund
genommen. Manche seiner wunderbaren Kinderlieder hat er auf dem gleichen Weg zu
Tage gefördert wie seine wissenschaftlichen Arbeiten, etwa seine
altholländischen und deutschen Sprachdenkmale. Er stöberte in Bibliotheken,
ging mit Eifer und Entdeckerfreude dem „Volksmäßigen“ und der Volkspoesie nach,
sammelte, bearbeitete,
und machte sie der Öffentlichkeit zugänglich, ähnlich wie die
Brüder Grimm es mit ihren Märchen taten. Zu seiner Zeit, der Romantik, galt die
Kinderliteratur als Medium der Folklore. Sicher war ihm „Des Knaben Wunderhorn“
von Achim von Arnim und Clemens Brentano vertraut. Ob er dagegen die
Kinderbuch- Bestseller seiner Zeit wahrgenommen hat, den „Struwelpeter“
seines Namensvetters Heinrich Hoffmann, und Wilhelm Buschs „Max und Moritz“,
darüber konnte ich nichts finden. Der „Struwelpeter“ galt als das
klassische Erziehungsbuch, während Wilhelm Busch der Meinung war, der Mensch
sei nicht erziehbar. Weder das eine noch das andere findet sich in den Hoffmannschen Kinderliedern. Sie sind an nichts gebunden, sind
Ausdruck von spontaner Lebensfreude und Naturliebe. Und eine Kinderliteratur in
der Separierung und Themenbezogenheit, wie wir sie in der heutigen
Überflussgesellschaft kennen, wäre Hoffmann von Fallersleben wohl fremd
gewesen.
Nähert man sich dem
Menschen Hoffmann von Fallersleben von außen, fällt auf, dass in dem körperlich
großen Mann - so wird er beschrieben – offenbar zeitlebens ein großes Kind
steckte. Sein
Geradeausdenken war es dann auch, das ihn oft in Schwierigkeiten brachte
und ihn an der Enge und Strenge der Erwachsenenwelt Anstoß nehmen ließ. Sein
Biograph Bernt Ture zur Mühlen beschreibt ihn als hyperaktiv,
immer in Bewegung, arbeitswütig, begeisterungsfähig und - wenn ich es richtig deute, von Kopf bis
Fuß von Gefühlen bestimmt. Längere Vorträge wie diesen konnte er nicht
ausstehen. Er hat sie gemieden oder verließ nach kurzer Zeit den Saal. Sollte
es Ihnen auch so gehen, wissen Sie sich in guter Gesellschaft.
Zweifellos war er ein Mensch mit Ecken und Kanten. Im Umgang
mit anderen nicht immer einfach. Jetzt muss er nun doch stillhalten und es sich
gefallen lassen, dass wir ihn aus unserer ganz anderen Zeit aus verschiedenen
Perspektiven betrachten:
Nach kurzem
Theologiestudium in Göttingen wechselt er zur Altertumswissenschaft, will ein
zweiter Winkelmann werden, plant Reisen nach Italien und Griechenland. Er
engagiert sich als Burschenschaftler, mischt sich in eine der ersten
Studentenunruhen in Göttingen und gerät in Konflikt mit der Obrigkeit. Dann
trifft er in Kassel Jacob Grimm, den Märchensammler und Sprachwissenschaftler.
Er erzählt ihm von seinen Berufs- und Reiseplänen, und der väterlich
wohlwollende Grimm fragt ihn: Liegt Ihnen Ihr
Vaterland nicht näher?
Die Begegnung wird zum Schlüsselerlebnis. Ab sofort stürzt
sich August Heinrich Hoffmann, der Gastwirts- und Kaufmannsohn aus Fallersleben, mit Feuereifer
in das Studium der damals noch jungen
Wissenschaft Germanistik. Sein ruheloser Charakter treibt ihn an. Im ganz
Persönlichen bringt ihn das wiederholt in schwierige Situationen. Immer wieder
verliebt er sich. - Das natürlich, kann in jeder Zeit und jedem passieren. -
Aber sein Verliebtsein verlagert sich schnell ins Schriftliche. Er schreibt
feurige Liebesgedichte, und manchmal ahnen die von ihm angehimmelten Mädchen
und Frauen lange nichts von seinem Entbranntsein.
Zwischen Vorstellung und Wirklichkeit steht für ihn eine scheinbar unüberwindliche
Mauer. Und jedes Mal, wenn er den Sprung darüber doch endlich wagt, wird er –
oft aus Gründen der mangelnden Standesgemäßheit - abgewiesen. So bleibt seine Sehnsucht
nach Zweisamkeit und häuslichem Glück lange unerfüllt. - Ich versuche, mir das
vorzustellen: Er ist 51 Jahre alt, verliebt sich in seine 18jährige Nichte Ida
zum Berge, die nach langem Zögern - und dem Zuspruch ihrer älteren Schwester
Alwine - der Verbindung mit dem so viel älterem Mann endlich zustimmt. Hoffmann
von Fallersleben fährt nach Bothfeld bei Hannover und bittet bei seiner eigenen
Schwester und seinem Schwager um Idas Hand. Elf harmonische Ehejahre sind ihnen
vergönnt - verdüstert durch den Tod zweier Kinder. Nur ein Sohn bleibt ihnen,
Franz, benannt nach dem Patenonkel, dem befreundeten großen Musiker Franz Liszt,
der manche von Hoffmanns Liedern vertont hat und den er in ihrer Zeit in Weimar
kennen und schätzen gelernt hat. - 1860
findet Hoffmann von Fallersleben nach unruhigen Jahren politischer Verfolgung
hier beim Herzog Viktor von Ratibor und Corvey eine Anstellung als Bibliothekar
in der großen und bedeutenden Bibliothek im Schloss Corvey. Endlich könnte er sich
auf ein kontinuierliches, ruhiges Arbeiten und Leben freuen. Da stirbt nach
einem halben Jahr in Corvey seine Frau Ida im Kindbett. Was für eine Tragödie!
In der Arbeit sucht und findet er Halt. Inzwischen ist die
48iger Revolution, auf die er so viel Hoffnung gesetzt hat, gescheitert.
Dreimal war er bei den Versammlungen in der Frankfurter Paulskirche dabei
gewesen. Aber die Bitten, sich als Abgeordneter aufstellen zu lassen und
mitzutun, politische Veränderungen in die Praxis umzusetzen, eine
freiheitliche, demokratische Verfassung für ein vereintes Deutschland zu
schaffen, hat er immer wieder abgelehnt. Mein Kampf sind meine Lieder - darauf
hat er sich zurückgezogen. Den blutigen Barrikadenkampf wie ihn manche seiner
Freunde in Baden führten, hat er ebenso gemieden wie die Mühsal der Ebene, das
Diskutieren von Gesetzen und Verordnungen, den Kleinkram der Verwaltung. Der
Gang durch die Institutionen, der langwierige Versuch, Träume in die
Wirklichkeit umzusetzen, war seine Sache nicht. Dennoch hat er für die Einheit
Deutschlands geglüht und viel dafür riskiert. Zu seiner Zeit war Deutschland in
vierzig kleine Fürstentümer und Königreiche zersplittert, und Hoffmann von
Fallersleben hat in seinen sehr politischen „Unpolitischen Liedern“ der
Willkürherrschaft eine unerschrockene Freiheitsliebe entgegengesetzt.
Was würde er sagen, könnte er einen Blick werfen auf unsere
ernüchterte, rationale, von Anspruchsdenken und oft gleichgültig kleingehaltener
Freiheitsliebe bestimmten Gegenwart? Welches Urteil würde er uns ausstellen für
unseren Umgang mit all dem, wovon er und viele andere im autoritären
Ständestaat geträumt haben? Was würde er sagen zu der offenen und freien
Gesellschaft im vereinten Deutschland, die wir heute als so selbstverständlich
erachten? Von der wir oft genug denken, sie sei vom Himmel gefallen und stehe
uns zu. Würde er uns beneiden? Oder würde er uns als Spießbürger verachten und
als Philister beschimpfen? - Ich wünschte, dass in unseren öffentlichen
Diskursen mehr von der Hoffmannschen Leidenschaft,
vom Brennen für den Kern unserer demokratischen Gesellschaft spürbar wäre. Ich wünschte,
dass heutige Politiker nicht nur auf Einzelheiten und Schwierigkeiten der
Regierungspraxis verweisen, sondern sich vielleicht sogar hin und wieder mal einen
Gefühlsausbruch leisten würden, damit deutlich wird, dass die freiheitlich
demokratische Gesellschaft ein Innenleben hat, für dessen Erhalt und
Fortschritt schließlich alle Gesetze und Verordnungen gemacht sind.
Aber Ach, könnte man mit Heinrich Heine sagen, wissen wir
nicht, wohin uns zu viel Gefühl in der Politik gebracht hat? Das Pendel der
Gefühle, das jeder Mensch in sich hat, kann leicht bis zum Hass ausschlagen.
Mit Erschrecken sehe ich, wie in unseren Tagen Politikerinnen und Politikern,
die sich redlich bemühen, Lösungen für drängende Zukunftsfragen zu finden - Lösungen,
die zwangsläufig Einschnitte in den privaten Wohlstand erfordern - der blanke
Hass entgegenschlägt. Wissen wir nicht mehr, dass es gerade das verführte
Gefühl war, das uns in die größte Katastrophe der deutschen Geschichte
getrieben hat? „Führer befiehl! Wir folgen dir!“ Damals standen wir am anderen
Ende von Demokratie und Freiheit. Jeden Anspruch selber
zu denken, haben wir uns abnehmen lassen. Wenn eine Gemeinschaft nur durch
Angst und Schrecken oder durch untertänigen Gehorsam aufrecht
erhalten wird, erlöschen alle Lebensgeister.
Nein, ohne Verstand geht es nicht. Verstand und Gefühl
gehören zusammen wie Kopf und Bauch, wie Stadt und Land, wie Wissenschaft und
Kunst. Das war schließlich auch Hoffmann von Fallersleben klar. Beide Seiten gehörten
zu seiner Arbeit. Viele seiner Biographen bezeichnen ihn als „Dichtergelehrten“.
Zu seiner Zeit ging ganz selbstverständlich noch
zusammen, was sich heute immer weiter voneinander zu entfernen scheint. Heute
gliedern sich die Wissenschaften in so viele Teilbereiche, dass es selbst für
Wissenschaftler immer schwerer wird, sich von einem hochspezialisierten Fachgebiet
zum anderen zu verständigen. Mit der Explosion der Wissenschaft in unseren
aufgeklärten Zeiten ist die
Poesie in ein Schattendasein abgeschoben worden, die
gefühlsbetone romantische allemal. „Dichter“ gilt vielen als ein hilflos
veraltetes Wort, das unserem Zeitgeist entgegensteht. Goethe gilt uns gemeinhin
als der Letzte, dem wir einen universellen Anspruch im Denken zugestehen.
Aber ist es nicht trotzdem so, dass jeder Mensch, egal ob
Wissenschaftler oder Poet, ob Intellektueller oder nicht, das tiefe Bedürfnis
in sich spürt, die Welt als Ganzes verstehen zu wollen? Sich mit Verstand und
Gefühl in der Welt zu bewegen? Wie noch nie in der Menschheitsgeschichte
liegt das Wissen der Welt vor uns auf dem Präsentierteller. So gut wie alles
können wir uns ergoogeln. Zur natürlichen Intelligenz
kommt nun noch die künstliche. Das wird viele Entwicklungen noch einmal
beschleunigen und die alte Binsenweisheit umso dringlicher machen: Freiheit
geht nicht ohne Verantwortung. Wir wissen immer mehr – könnten es jedenfalls –
aber verstehen wir auch immer mehr? Welchen Einfluss nimmt der technische
Fortschritt auf Freiheit und Demokratie? Vor einem halben Jahrhundert, erinnere
ich mich, setzte man große Hoffnungen auf die Einführung der privaten
Fernsehsender. Vielfalt kann nur gut sein, hieß es. Hat die Demokratie durch
die Privatsender - und
nun auch mit den sogenannten sozialen Medien - an Qualität gewonnen? Oder
erschwert uns die schnell zugewachsene Quantität all dieser Dinge vor allem die
Unterscheidung von wichtig und unwichtig? Die Technik ist uns weit voraus. Der
segensreiche Umgang mit ihr erfordert – habe ich manchmal den Eindruck – inzwischen
eine eigene, neue Wissenschaft.
Ganz ohne künstliche Intelligenz kann man sich leicht
klarmachen, dass ein Mensch nur einen kleinen Bruchteil von all dem Wissen
erfassen kann, das in der Welt ist. - Aber ist es nicht wunderbar, dass die
Möglichkeiten zu lernen unerschöpflich sind? Für meine Frau und mich ist das
Lesen zum Schlüssel für die große Schatztruhe von Wissen und Poesie geworden. Der leider
viel zu früh verstorbene Göttinger Germanist Heinz Ludwig Arnold hat einmal
gesagt: Wer liest, ist in Verbindung mit den besten Geistern aus allen
Zeiten und von überall her. Noch stellt der Buchhandel in Deutschland - neben
viel Unsinn - auch viel Lesenswertes aus allen Zeiten und von überall her zur
Verfügung. Z.B. auch das von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene große Lesebuch
„Hoffmann von Fallersleben“.
Meiner Erfahrung nach
ist das alte Medium Buch gegenüber der Flüchtigkeit und Rasanz der digitalen
Medien das demokratischere: Es lässt uns die Zeit und die Freiheit, die
Geschwindigkeit der Aufnahme des Neuen und das Nachdenken darüber selbst zu
bestimmen.
Wir bleiben Suchende und müssen uns bei allem Zuwachs von
Wissen damit abfinden, dass auf jede Antwort viele neue Fragen folgen. - Vor
kurzem habe ich in der Süddeutschen Zeitung einen nachdenkenswerten
Artikel der in Deutschland lebenden palästinensischen Schriftstellerin und
Friedensaktivistin Joana Osman gefunden. Sie schreibt: Wir definieren uns
über Geschichten, konstruieren unsere Identität mittels Geschichten, bauen
Kulturen, Religionen und Nationalitäten auf Geschichten, Erzählungen und
Narrativen auf. Und wir führen Kriege mit Geschichten.
Doch zurück zu Hoffmann von Fallersleben. Dreimal war er zur
„Badekur“ auf der damals englischen Insel Helgoland, die offensichtlich auch bei
vielen Erholung suchenden Deutschen beliebt war. - Wenn ich an Helgoland denke,
denke ich zuerst an James Krüss, den zu meiner Zeit bedeutenden
Kinderbuchautor, der über seine Kindheit dort wunderbare Geschichten geschrieben
hat. Ich hatte später das Glück, für kurze Zeit sein Lektor zu sein und denke
bis heute daran, wie er in einer Lesung vor ca. 100 Kindern ohne alles Showgebaren,
allein mit seinem Sprachvermögen, seinem Sprachwitz und seiner Phantasie für leuchtende Augen und Beifallsstürme gesorgt
hat. Auf seine unverwechselbare leichte Art und Weise hat er treffende Worte
für Gefühl und Verstand gefunden. - Ich nehme mal an, wären sich Hoffmann von
Fallersleben und James Krüss auf Helgoland begegnet - sie hätten trink- und
redefreudig zueinander gefunden.
Bei allen vermuteten Gemeinsamkeiten aber – die Zeiten lassen
sich nicht verschieben. Jeder wird von der seinen geprägt. Jeder ist in seiner
Eigenart zu verstehen. Das sollte nicht verwischt werden. Hoffmann von
Fallersleben schreibt in seinem Erinnerungsbuch „Mein Leben“ über seinen
zweiten Helgoland- Aufenthalt: Wenn ich dann so wandelte
einsam über der Klippe, nichts als das Meer und den Himmel um mich sah, da ward
mir so eigen zu Muthe, ich musste dichten und wenn
ich es auch nicht gewollt hätte. So entstand am 26. August das Lied
Deutschland, Deutschland über alles.
Zweifellos – das Pendel seiner romantischen Gefühle war stark
in Bewegung. Und zweifellos: Es war getränkt von seiner Sehnsucht nach Einigkeit und
Recht und Freiheit. An eine Nationalhymne hat er dabei nicht gedacht. Erst viel
später, 1922, während der Weimarer Republik, erklärte der Sozialdemokrat,
Reichspräsident Friedrich Ebert. das „Lied der
Deutschen“ – alle drei Strophen – zur Nationalhymne. Wie sich der böswillige
Missbrauch des ganz anders gemeinten „Deutschland,
Deutschland über alles“ in der Nazizeit angefühlt hat, hat Wolf Biermann an
dieser Stelle am Beispiel seiner eigenen Familiengeschichte eindrücklich
geschildert.
Die Zeit ist weitergegangen, aber die Narbe der dunklen
deutschen Vergangenheit im Nationalsozialismus ist geblieben. Neidvoll haben
meine Frau und ich zugehört, wie am Anfang einer Freilichtaufführung eines
Andersen- Märchens in Odense fröhlich gestimmte Dänen, Jung und Alt, sich
erhoben und lauthals und im unbefangenen Gemeinschaftsgefühl ihre Nationalhymne
schmetterten. Und gleich darauf ihre Picknickkörbe öffneten. In Deutschland
habe ich Vergleichbares nie erlebt.
Ja, es stimmt, in
unserem emotionalen Haushalt ist nach der Katastrophe des Nationalsozialismus,
nach dem zweiten Weltkrieg, etwas durcheinander geraten
und für immer gestört worden. Wir müssen damit leben. - Ich möchte Ihnen eine
kurze Passage aus meinen Lebenserinnerungen „Zwischen den Zeilen – zwischen den
Stühlen“ vorlesen, die das vielleicht deutlich machen kann. Als Kind auf dem
Lande hat sich die Nachkriegszeit für mich so angefühlt:
Der Lokführer war ein guter Zuhörer meines
Vaters. Eingehüllt in Zigarrenqualm sitzen sie in der ‚Guten Stube‘ am Tisch,
mein Vater an der Stirnseite. Sie reden, nicken sich zu in ihrer Welt aus beißendem Qualm. Manchmal durchstößt eine Hand die
Wolkenwand, manchmal zieht die zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmte Zigarre
meines Vaters einen weiten Kreis, um die Stärke des angreifenden Feindes
anschaulich zu machen. Manchmal fällt weiße Asche auf die Tischdecke wie um
keinen Zweifel zu lassen an den Folgen des erbitterten Kampfgeschehens.
Meine Mutter und die kleine, immer strickende
Frau des Lokführers sitzen außerhalb der qualmenden Front und sprechen über
Verlobungen und Hochzeiten im Dorf und über Kochrezepte.
Ich weiß nicht mehr warum, vielleicht, um meine
Dankbarkeit für die mitgebrachte Tafel Schokolade zu bezeugen, darf ich als
Neun- Zehnjähriger beim Lokführerbesuch eine Weile mit dabei sein. Mit
Angstlust sauge ich das Kriegsgeschehen in mich hinein, und immer, wenn mein
Vater sagt: ‚Um ein Haar!‘ rieselt es mir den Nacken hinunter und ich denke: Um
ein Haar und ich wäre gar nicht auf der Welt. 1947 geboren, ist mein Leben Glücksache,
Millimeterarbeit des Schicksals.
Wenn es den Frauen zu viel wird, sagt meine
Mutter: ‚Nun hört aber mal auf!‘ Dann kann es sein, dass sich der Nebel lichtet
und mein Vater verstohlen Aschehäufchen vom Tisch wischt. Aber schon mit der
neu angezündeten Zigarre setzen die Einschläge und Stellungskämpfe wieder ein
und begleiten mich bis in die Träume hinein…
Später dann, als ich vierzehn, fünfzehn Jahre alt war, hatte
ich hitzige Gespräche mit meinem Vater um die Frage: „Warum hast du da
mitgemacht?“ Als Antwort bekam ich immer wieder: Ihr habt gut reden! Ihr
habt das nicht miterlebt! Ja, wir wissen heute, dass wir betrogen worden sind
und von den Morden an den Juden habe ich nichts gewusst. Und dann kam immer
wieder dieser eine Satz, der sich mir eingegraben und mich ein Leben lang
begleitet hat: Macht ihr das mal besser!
Dass sich das Abwerten
anderer Kulturen auch in der Literatur lange gehalten hat, kann man selbst bei
Thomas Mann nachlesen. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ hat er –
ganz im Unterschied zu seinem Bruder Heinrich – von einem Kulturstolz gesprochen, der die
deutsche Kultur über die anderer Länder, besonders die Frankreichs, erhebt. Das
diente auch der Rechtfertigung des deutschen Eintritts in den Ersten Weltkrieg.
Thomas Mann hat seine Ansicht später – nach der Erfahrung der Barbarei der
Nazis und mit der Erfahrung der Emigration – revidiert. Aber der Hang zur
Abgrenzung, zum Bessersein als andere, wird uns Deutschen bis heute – oft zu
Recht – vorgeworfen.
In zwei früheren Reden hier in Corvey ist vorgeschlagen
worden, die „Kinderhymne“ von Berthold Brecht als Nationalhymne einzuführen.
Die „Kinderhymne“ ist eine Replik auf das „Lied der Deutschen“ unter Vermeidung
der zeitgebundenen Aussagen, die so übel missbraucht worden sind. Im Brechtschen Text wird das Miteinander im Konzert mit anderen
Nationen betont. Das wäre eine Konsequenz aus der bitteren Erfahrung aus der
deutschen Geschichte und würde den Blick nach vorn öffnen. An anderer Stelle
wurde die ehemalige DDR- Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ ins Spiel gebracht.
Gespräche in meinem Familien- und Bekanntenkreis liefen schnell auf die Frage
zu: Brauchen wir überhaupt eine Nationalhymne? War und ist das Pochen auf dem
Nationalen nicht immer wieder Grund für Konflikte, die oft genug zu Kriegen
geführt haben? Und wie wir in Russland sehen, es wieder tut? Wäre es nicht
besser, wir würden uns mit Beethovens „Ode an die Freude“ als europäische Hymne
begnügen? - Ich denke, die Diskussion darüber ist noch nicht zu Ende.
Inzwischen aber kann ich mit der jetzt gültigen Hymne gut leben.
Wenn ich versuche, mir den romantisch gepflasterten Weg der Gefühle von
Hoffmann von Fallersleben 1841 auf Helgoland zu erklären, dann kommt es mir
vor, als sei in den drei Strophen des „Lieds der Deutschen“ eine Entwicklung zu
sehen, die vorzeichnet, was der Lauf der
späteren Geschichte nachvollzieht: In der ersten Strophe spiegelt sich im
„Deutschland, Deutschland über alles“ der gut gemeinte Stolz im missverständlichen Pathos, die
zweite Strophe schwelgt im romantisierend hohen Ton von „deutscher Treue“, den
„deutschen Frauen“ , dem „deutschen Wein und deutschen Sang“. Erst in der
dritten Strophe findet er treffende, stimmige Wörter für seine Gefühle.
„Einigkeit und Recht und Freiheit“ – das hat bis heute gehalten.
Mit der Einigkeit
hatten wir bis 1989 viele Probleme. Und wie es scheint, haben wir sie immer
noch. Zu unterschiedlich war unser Herkommen nach fünfzig Jahren Spaltung. Ich
erinnere mich: Als Siebenjähriger sitze ich im Apfelbaum meiner Großtante und
sehe über den gepflügten Streifen und den Stacheldraht hinweg in das
Nachbardorf, das seit 1945, also seit neun Jahren, in unerreichbarer Ferne
liegt. Plötzlich heulen drüben die Sirenen und ich erschrecke. Menschen kommen
aus einem großen Gebäude, ich sehe sie deutlich vor mir und winke. Aber niemand
von den Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Tabakfabrik in Neuendorf, DDR,
nimmt mich zur Kenntnis. Was für meinen Vater vertraute Nachbarschaft war,
bleibt mir fremd. Was ich in meiner Kindheit über das Land hinter der Grenze
erfahre, ist geprägt vom westlichem Zeitgeist. Da drüben
herrscht Sozialismus, heißt es, und Sozialismus bedeutet Unfreiheit. Wir
dagegen, hier im Westen, lerne ich schon in der Grundschule, wir haben Freiheit. Die
Freiheit zu reisen, die Freiheit, alles sagen zu dürfen, und wir haben den
wachsenden Wohlstand. Unvergessen ist mir der Mann mit der Zigarre, der
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der Vater der sozialen Marktwirtschaft. „Wohlstand
für alle“ hieß sein Buch, und sein stets wiederholtes Mantra „Maßhalten,
maßhalten“, haben wir schon bald lächelnd in den Wind geschlagen. Es ging ja aufwärts, immer höher, immer weiter.
Als fünfzehnjähriger
Schüler einer Realschule bekam ich dann die nüchterne Konsequenz der
Marktwirtschaft als unvergessliche Lektion erteilt. Eines Tages erschien unser
Rektor in der Redaktionskonferenz unserer Schülerzeitung und erklärte: Ab
sofort wird die Schülerzeitung zur Aktiengesellschaft. Eine Aktie, eine Mark,
gleich eine Stimme. Selber legte er dreihundert Mark
auf den Tisch. Wenn er also bei einer künftigen Entscheidung über Wohl und Wehe
unserer Schülerzeitung die Hand hebe, erklärte er zu unserer Verblüffung, habe
er dreihundert Stimmen. Lächelnd sagte er: So funktioniert die Wirtschaft, das
könnt ihr nicht früh genug lernen. Realschüler sind keine Traumtänzer. Seid
wach und nutzt euern Vorteil.
Bevor auch der Sozialismus in der DDR der Logik des Geldes
weichen musste, wurde er über viele Jahre durch immer schlimmer werdende Stasi-
Überwachungsmethoden, Zwangsmaßnahmen bis hin zu Morden nicht nur an Grenze
pervertiert. Mit dem Entzug der Freiheit war schließlich auch eine ursprünglich
gute Idee nicht am Leben zu halten. Die anfangs im Westen heftig umstrittene
Politik der Öffnung von Willy Brandt führte zu Tauwetter in vielen Bereichen
und machte Begegnungen und Gespräche nicht nur unter Politikern möglich. Zum internationalen
Treffen von Kinder- und Jugendbuchautoren des Friedrich Bödecker Kreises in
Hannover, das alle zwei Jahre stattfand, kamen nun auch immer mehr Kolleginnen
und Kollegen aus der DDR. Mit dem Kennenlernen in vielen Gesprächen jenseits
der ideologischen Zwangswesten wuchs Verständnis füreinander. Langjährige
Freundschaften entstanden, nicht immer einfacher Art. Sich mit
unterschiedlichen Lebensgeschichten wahrzunehmen und zu respektieren - das
bleibt eine Herausforderung bis heute.
Dann kam 1989. Der wachsende Freiheitsdrang vieler Menschen
in der DDR führte schließlich zur friedlichen Revolution, zur Öffnung der
deutsch-deutschen Grenze und zur Vereinigung nach fünfzig Jahren Trennung. Den
Jubel dieser Tage werde ich nicht vergessen. Inzwischen lebten wir in Friedland
bei Göttingen, gut zwanzig Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem ich ein Kind
war. Mit dem Fahrrad bin ich über die ehemalige Grenze gefahren, habe von der
anderen Seite in den Westen gesehen, habe versucht, das Ziel, das unerreichbare
Neuendorf zu erreichen. Es blieb auch an diesem Tag zu weit für mich.
Bei allem berechtigten
deutschen Jubel sollten wir aber auch nicht vergessen, dass die damalige
weltpolitischen Lage für die Vereinigung günstig war. Die mutige Entscheidung von
Michail Gorbatschow, sein Land, die Sowjetunion, mit dem Wagnis von Glasnost und
Perestroika aus dem Zwangskorsett der Diktatur zu befreien und sich
freiheitlichen Ideen zu öffnen, hat es dem bundesdeutschen Kanzler Helmut Kohl
möglich gemacht, die Weichen für die deutsche Einheit zu stellen. Ich denke oft
darüber nach, wie es kommen konnte, dass die große Mehrheit der Menschen in
Russland sich schon bald so entschieden gegen die freiheitlichen Vorstellungen
gewandt hat. Waren es allein die wirtschaftlichen Bedingungen? Oder nicht auch
der verletzte Nationalstolz? Der Wechsel von Gorbatschow über Jelzin zu Putin,
der sich nun mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine als aggressiver Feind der
Freiheit erweist, ist ein Rückschritt in der Geschichte und Anlass zu großer
Sorge.
Weltweit müssen wir beobachten, dass das Vertrauen in die
Demokratie schwindet und autoritäre Gesellschaftsmodelle Zulauf finden. „Unser
Land zuerst“, schallt es lautstark aus Amerika herüber. Egoismus als
Staatsräson. Nicht nur von außen sind Freiheit und Demokratie gefährdet, es gibt
auch unübersehbar selbstzerstörerische Tendenzen. Auch in Deutschland erleben
wir, wie geschichtsvergessen alte, abgelebte Vorstellungen von gestern und
vorgestern - selbst völkische Gedanken - eine Neuauflage bekommen. -
Immerhin, ein paar Wochenenden lang gab es sichtbare
Hoffnung, als Menschen zu Zehntausenden auf die Straße gingen, um für Freiheit
und Demokratie und gegen die Anfänge diktatorischer Entwicklung zu
demonstrieren. Dann kamen Ostern, die Kirschbaumblüte und die beginnende
Urlaubszeit…
Das Pendel der Gefühle war immer und ist auch
jetzt in Bewegung. Noch haben wir – mit Verstand und Leidenschaft - die
Möglichkeit, mitzubestimmen, in welche Richtung es ausschlagen soll.
Drei Jahre vor seinem Tod erlebt Hoffmann von Fallersleben
hier in Corvey noch die Erfüllung seiner Träume, die Vereinigung des
zersplitterten Deutschlands in der Ausrufung des Kaiserreichs unter preußischer
Herrschaft, von Bismarck gelenkt. Es ist eine erzwungene Einheit nach drei
Kriegen und der Unterwerfung des „Erbfeindes“ Frankreich, eine deutsche Einheit
von oben, anders als die Revolutionäre von 1848 es gewollt hatten. Mit
Altersgelassenheit und ein wenig melancholisch dichtet Hoffmann von
Fallersleben 1873:
Viele Feinde sind erlegen,
Seit das Vaterland geeint,
Und es wär ein Gottessegen,
Wären wir uns selbst nicht feind.
Freiheit von den fremden Ketten
Mag uns schon gelungen sein,
Von den eignen uns zu retten,
fällt uns immer
noch nicht ein. …
Die preußisch geprägte wilhelminische Kaiserzeit im vereinten
Deutschland setzt nun ganz auf Aufrüstung und militärische Stärke, auf
Machtfülle und Abgrenzung. Die dem besiegtem Frankreich auferlegten Sanktionen
werden ein halbes Jahrhundert später im Versailler Vertrag als Bumerang
zurückkommen. Nachdem Kaiser Wilhelm II seinen mit kühlem Verstand
kalkulierenden Kanzler Bismarck entlassen hat, schlittert er mit einiger Logik
im europäischen Machtgemenge in die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Nach dem
verlorenen Krieg und der Revolution 1918 kommt es zu einem immer gefährdeten Demokratieversuch
in der Weimarer Republik, bis dann 1933 – frei gewählt – der Gang in die
Despotie des Nationalsozialismus folgt. Die Angriffskriege im deutschen Namen
gegen Polen, Frankreich, England, die Sowjetunion und andere Länder haben
unserem Nationalstolz einen bitteren Beigeschmack gegeben.
All das war für Hoffmann von Fallersleben nicht vorhersehbar.
Sein Wünschen, sein Hoffen, seine Leidenschaft hatten ein anderes Ziel gehabt. Die
Weichen für Wohl und Wehe der Menschen in Europa wurden von anderen gestellt,
vorwiegend von solchen, die sich „von Gottes Gnaden“ nennen ließen. Dennoch
bleibt uns vom Dichter Hoffmann von Fallersleben mehr und Bedenkenswerteres als
von den Kaisern, Königen und Fürsten im Ränkespiel der Macht. Sein
„Liederkampf“ war nicht umsonst. Seiner Überzeugung ist er treu geblieben, auch
wenn manches anders gekommen ist, als er wollte. Darin liegt Ermutigung bis
heute. Was wäre, wenn wir die Fähigkeit verlieren würden, uns die Welt anders,
besser vorstellen zu können als die Realität sie uns bietet? Nie hat er seine
Hoffnung aufgegeben, dass der Mensch sich schließlich doch für die Freiheit
entscheiden würde. Das hat ihn schließlich seine Stelle als Professor in
Breslau gekostet. Er hatte Aufenthaltsverbot in Preußen, im Königreich Hannover
und anderswo. Doch er ließ sich nicht einschüchtern. Der Kreis seiner Freunde
war immer größer geworden. Und der Geist der Zeit war seinem Denken und Schreiben günstig. Der
geschäftstüchtige Hamburger Verleger Julius Campe hatte erkannt, dass Hoffmanns
populäre Art zu schreiben, sich gut verkaufte, auch wenn er sie vom
künstlerischen Standpunkt gering schätzte. Hoffmann
von Fallersleben nutzte die Gunst der Stunde. Oft und gern hat er seine provokanten „Unpolitischen
Lieder“ öffentlich vorgetragen und dabei seine Bücher selbst verkauft. Auf
Reisen wurde er oft erkannt und gefeiert, was er durchaus genossen hat.
Dann, nach 1848, kam auch für ihn die große Ernüchterung, und
er dichtete:
Die Welt steht wieder still
Als wäre sie am Ziel.
Der Fortschritt, den man will,
Ist nur ein Börsenspiel.
Anders als Hoffmann von Fallersleben hatte ich in der
heutigen Bücherwelt nicht unter Zensur zu leiden. Kein Fürst hat mir ein
Aufenthaltsverbot in irgendeinem Bundesland erteilt. Dennoch bin ich in unserer
schönen neuen Bücherwelt als Buchhändler, Lektor, Autor und Übersetzer häufig
genug auf versteckte Widersprüche gestoßen. Alles ist am Ende eine
Rechenaufgabe. Die Eigendynamik des Kapitalismus, der Pferdefuß unserer
Wirtschaft, der das sich selbst multiplizierende, immerwährende Wachstum
voraussetzt, hat meiner Freude und Leidenschaft beim Büchermachen immer wieder Dämpfer
versetzt.
Wie mein sehr geschätzter Kollege und Freund Klaus Kordon in Berlin fand
ich es immer wichtig, Jugendbücher zur Geschichte und Zeitgeschichte mit dem
Blickwinkel von unten zu schreiben. Die rasante Veränderung der
Medienlandschaft, die Entwicklung weg vom Buch, hin zum Digitalen, hat die
ökonomischen Zwänge in den Kinder- und Jugendbuchverlagen wesentlich
verschärft. Wie ich von vielen Kolleginnen und Kollegen erfahre, und wie ich es
selber erlebe, erntet man inzwischen oft verlegenes
Schulterzucken aus den Verlagen, wenn man ein Manuskript mit einem
zeitgeschichtlichen oder geschichtlichen Hintergrund anbietet. Allein das Thema
verschreckt. Ja, gut und wichtig, heißt es dann, aber verkauft kriegen wir das
nicht. Junge Leute, spätestens ab 12 Jahren, lesen nicht mehr, und für
Historisches interessieren sie sich schon gar nicht. Dass das - jedenfalls in
dieser Pauschalität – nicht stimmt, erfahren wir in vielen Lesungen und
Gesprächen mit jungen Menschen in Schulen. Aber seine Heiligkeit, der Markt,
will es anders. Manche nennen auch das eine Zensur. Manche weichen ihr durch
Selbstzensur aus.
Die Freude, die gerade die kleine Anstrengung des Lesens mit
sich bringt, scheint immer mehr aus der Welt gedrängt zu werden. Eine
wunderbare Erfahrung unserer gemeinsamen Arbeit im Weinberg der Literatur, ist
die mit jeder Geschichte neue Möglichkeit zum Dialog, zum Hin und Her zwischen
Gelesenem und Gelebten, das zu anregenden Gesprächen führen und neue
Perspektiven eröffnen kann. Zusammen haben meine Frau und ich viele Kinder- und
Jugendbücher aus dem Englischen übersetzt. Das Übersetzen ist, wie das Lesen
ein offenes Fenster zur Welt, ein lustvolles Lernen und Eintauchen in andere
Verhältnisse, in andere Zeiten - und liegen sie noch so weit zurück. Verstehen
kann man die Welt nur rückwärts, hat der Philosoph Sören Kierkegaard gesagt,
leben müssen wir vorwärts. –
Was aber, wenn wir
vorwärts leben, ohne zu verstehen?
Zu meiner Überraschung habe ich bei der Vorbereitung auf
diese Rede festgestellt, dass wir die letzte Fassung eines meiner
Lieblingslieder Hoffmann von Fallersleben verdanken. Es findet sich inmitten
der Sammlung „Schlesische Volkslieder mit Melodien“, die er 1842 zusammen mit
Ernst Richter herausgegeben hat. Das Lied steht in einer Tradition
freiheitlichen Denkens und ist mir – wie soll ich sagen – eine Art persönliche
Nationalhymne, die nicht missbraucht werden kann. Sophie Scholl hat das Lied
auf der Blockflöte vor der Gefängnismauer gespielt, hinter der die
Nationalsozialisten ihren Vater eingesperrt hatten.
Die Gedanken
sind frei,
wer kann sie
erraten,
sie fliehen
vorbei
wie nächtliche
Schatten.
Kein Mensch
kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei:
Die Gedanken
sind frei.
Vielleicht ist ja die Nation, vielleicht
ist ja die Heimat - der Ort, zu dem wir immer unterwegs sind und den wir nie erreichen
- nur in der Hoffnung zu Hause, die wir mit anderen teilen, im Miteinander
unterschiedlichster Menschen, von dem in unseren Geschichten immer wieder neu
erzählt werden muss.